Macht Liebe wirklich blind?

„Wenn du dir wünschen könntest, ich würde aussehen wie einer der großen Stars, welcher wäre das dann?“
„Schatz, ich liebe dich, so wie du bist.“
„Sehr beruhigend. Weißt du was? Ich glaube, ich würde mir gern die Haare lang wachsen lassen.“
„Nein, das willst du nicht!“
„Warum nicht?“
„Weil ich dich sonst verlasse.“
„Aber ich dachte …“
„Hast du mir nicht zugehört? Ich liebe dich so, wie du bist, nicht wie du gern sein möchtest.“

Kein Ende

Mein Schlafzimmer. Ein bisschen zu groß vielleicht. Auch das Bett dehnt sich. Ich komme mir klein vor. Insbesondere angesichts des Tigers, der die Schlafdecke mit mir teilt. Er sieht nicht freundlich aus. Ich erkläre ihm, er sei mein absoluter Favorit in der Tierwelt. Bin mir nicht sicher, ob ihn das beschwichtigt. Vorsichtshalber ziehe ich mich zurück. Der Blick aus seinen grünen Augen folgt mir, derweil ich unter die Decke krieche. Mit den Füßen voran. Meine Zehen suchen nach dem Ende des Bettes. Neben mir der Leib der großen Katze. Muskeln spielen selbst dort, wo ich keine vermutet hätte. Färben das Gelb zwischen den Streifen in ein warnendes Feuerrot. Ich lege eine Rast ein, betaste meinen Bizeps und beschließe, weiterzusuchen. Einmal glaube ich, den Bettrand gefunden zu haben. Mein großer Zeh meldet: Zu früh gefreut! Hunderte von Metern bin ich schon geflüchtet. Endlich entdecke ich eine Pranke. Der Tiger könnte nun ein Ende haben. Doch stattdessen beginnt er von vorn. Noch krieche ich weiter, während mir die Glieder schwer werden. Und langsam begreife ich, warte, dass mich der Morgen befreit.

Das Kompliment

Heute würde sie … Nein, sie würde nicht. So oft sie es sich auch vornahm, so vergeblich ihr Hoffen auch war, noch nie hatte sie ihm einen Wunsch abgeschlagen. Kein Nein kam über ihre Lippen. Lippen, die sich nach solchen wie den seinen verzehrten.

Sie blickte kaum auf. Der gläserne Tresen der Betriebskantine schützte sie vor der aufgesetzten Freundlichkeit der hungrigen Meute. Aufgesetzt wie sein Lächeln, das seine Verachtung verriet und dem sie dennoch nicht widerstehen konnte.

Schnitzel, Hähnchenkeule, Fischfilet, Veggieburger, …

„Aus Ihren Händen schmeckt es immer besonders gut!“
Sie schaute auf. Schaute ein Gegenüber, das die Augen senkte, erschrocken ob des eigenen Mutes. Sie betrachtete ihre Hände, die doch gar nicht mit dem Essen in Berührung kamen. Sie lächelte. „Ich danke Ihnen!“

Diesmal war sie vorbereitet!
„Würdest du …“
„Nein, ich würde nicht! Mach deinen Scheiß selbst!“

Die Nachricht des Tages

Aufgewühlt öffnete Herr P. die Wohnungstür, begierig darauf, die Nachricht des Tages mit seiner Frau zu teilen. Er traf sie im Schlafzimmer an. Sie lag auf dem Ehebett, bäuchlings, als habe sie jemand niedergestreckt. Das Gesicht in den Händen vergraben, schluchzend.
Er setzte sich zu ihr, streichelte ihr sanft den Rücken. „Du hast es also schon gehört?“
Sie nickte und er dachte, was er doch für eine sensible Frau habe, der das Leid anderer so zu Herzen ging. Zarter noch streichelte er ihr jetzt das schöne Haar, flüsterte, es sei ein schwarzer Tag.

Sie richtete sich auf, schloss ihn in die Arme, dankte ihm für seine Anteilnahme. „Sie hat mich über so viele Jahre begleitet!“
Er drückte sie von sich, fragte, wen sie denn meine, bekam die Antwort, die er befürchtet hatte. Entsetzt sprang er auf, begann zu schimpfen: „Es geschieht ein großes Unglück in der Welt, bei dem hunderte Menschen sterben, und deine Tränen gelten einzig einer Sängerin, die sich in den Tod gesoffen hat?“
Sie sah ihn betroffen an. „Ich schäme mich meiner Tränen nicht. Sie war wie ein Teil von mir. Ihr Tod ging mir nah!“

Wahrlich ein schwarzer Tag für Herrn P. Verstimmt widmete er sich seiner Post. Noch als er am nächsten Tag heimkehrte, war sein Ärger nicht verraucht. Doch seine Frau erwartete ihn schon, entschuldigte sich. „Lass uns heute über das Unglück sprechen.“

Mit jedem Wort, das sie über die Katastrophe austauschten, fühlte er sich besser. Endlich schien sie zu verstehen, wie die Dinge zu gewichten waren. Lange sprachen sie, bis er sich seiner Post zuwandte. Ein schwarzer Briefumschlag enthielt die Nachricht vom Tod seines besten Freundes.

„Warum hast du mir nicht gleich davon erzählt?“, fragte er seine Frau.
„Ich dachte, es sei nicht wichtig.“

Balkon

Abendliches Grab. Alles still. Weit hinten schläft der Wald. Wenn er blinzelt, sieht er seine Kinder. Sie wachsen in der Baumschule. Heimlich. Nicht wahrnehmbar für mich. Wie die Grillen. Es zirpt. Wer weiß schon, woher? Verewigte Spur des abwesenden Traktors. Im wellenlosen Meer aus Korn. Die Wellen sind in die Baumkronen gekrochen. Getrieben vom müden Wind spielen sie mit den Blättern. Kindisch. Die wogenden Höschen. Sie erinnern an die nachmittägliche Mutter, die die Wäscheleinen weckte. Ich denke an ihre runden Formen, freue mich auf die noch kleineren Höschen, die bald schon die Leine schmücken. Kündend vom ewigen Fortgang des Lebens.

Belehrung

Da Meier nicht begreifen konnte, wie ein Mensch derart leichtfertig mit dem Leben anderer umgehen konnte, suchte er Lehrer Schulze auf, unter dessen Aufsicht sich Meiers geliebte Tochter einen ihrer zarten Knöchel verstaucht hatte, knüpfte ihn mit einem eigens dafür erstandenen Strick und den Füßen zuoberst an einen Baum, entzündete ein Feuer direkt unter Schulzes Haupt und genoss den Anblick, wie dem Lehrer ein Licht aufging.

Bedeutungslos

Ich sitze auf meiner Bank am See, betrachte die dummen Gesichter der Enten. Ein Mann kommt, einer, den ich noch nie gesehen habe. Er schaut mich an. Was für kluge Augen, denke ich. Ich wusste gar nicht, dass Augen so klug sein können.
Der Mann setzt sich. Er fragt nicht. Er schweigt. Starrt auf den See.
Vielleicht habe ich mich getäuscht, denke ich. Die Augen betreffend.
Ich falle in sein Schweigen ein. Ich saß zuerst hier.
Schweigen kann ich gut. Er jedoch kann es besser.
Ich beginne ein Gespräch. Schönes Wetter heute, sage ich.
Der Mann steht auf und geht.
Mein erster Schreck verfliegt. Hat sicher nichts zu bedeuten, denke ich.