Der Ältere und der Jüngere

Ein Mann hatte zwei Söhne. Er liebte sie beide. Der Ältere war ihm wohlgeraten, der Jüngere aber zeigte sich schon früh als Sorgenkind. Als dieser es wieder einmal gar zu sehr getrieben hatte, beschloss der Mann seine sparsame Zeit fortan vor allem für ihn aufzuwenden, wusste er doch, dass der Ältere seiner kaum bedurfte, um sich den Stolz des Vaters zu verdienen.

Viel Aufmerksamkeit schenkte er nun dem anderen, unternahm dies und jenes mit ihm, sprach lange und oft mit ihm über seine Verfehlungen und vergaß auch nicht, ihm den Bruder als Vorbild zu erwähnen. Doch gerade, als er glaubte, sein Tun zeige Wirkung, steckte man den Älteren ins Gefängnis.

Bedeutungslos

Ich sitze auf meiner Bank am See, betrachte die dummen Gesichter der Enten. Ein Mann kommt, einer, den ich noch nie gesehen habe. Er schaut mich an. Was für kluge Augen, denke ich. Ich wusste gar nicht, dass Augen so klug sein können.
Der Mann setzt sich. Er fragt nicht. Er schweigt. Starrt auf den See.
Vielleicht habe ich mich getäuscht, denke ich. Die Augen betreffend.
Ich falle in sein Schweigen ein. Ich saß zuerst hier.
Schweigen kann ich gut. Er jedoch kann es besser.
Ich beginne ein Gespräch. Schönes Wetter heute, sage ich.
Der Mann steht auf und geht.
Mein erster Schreck verfliegt. Hat sicher nichts zu bedeuten, denke ich.

Die Frauen dieser Welt

Würden die Frauen dieser Welt unseren Planeten in gleichem Maße beschützen, wie sie ihn allein durch ihre Anwesenheit verschönern, hätte selbst die geballte Manneskraft wenig Chancen, ihn weiter zu Grunde zu richten.

Mann

„Ich bin ein Mann!“, sagt er sich.

Er sagt es sich immer wieder. Und als Mann, braucht er eine Frau. Das weiß er. Er braucht sie, nicht zuletzt, um sich als Mann zu fühlen. Denn wie sonst definiert sich ein Mann als über eine Frau, der er das beweisen kann.

Diese Erkenntnis bringt ihn zum Träumen, wie es wäre ein Mann zu sein. Doch ob sie ihn seinem Traum näher bringt, das weiß er nicht.

Käse

Herr P. sagt zu Frau P.: „Dein Gedächtnis ist wie dieser Käse!”
Er tippt mit dem Zeigefinger auf eines der vielen Löcher.
„Ich weiß”, sagt sie.
„Woher weißt du?”, fragt er.
„Du hast es mir schon gestern gesagt.”
Herr P. runzelt die Stirn. „Gestern?”
„Und vorgestern.”
„Vorgestern auch schon?” Herr P. ist überrascht.
„Du sagst es mir jeden Tag.”
„Jeden Tag?”
„Immer wenn du diesen Käse isst.” Nun tippt Frau P. auf den Käse.
Herr P. kratzt sich am Kinn. „Esse ich diesen Käse denn jeden Tag?”
Sie nickt. „Jeden Tag.”
Herr P. schüttelt verwundert den Kopf. Dann fragt er: „Was denkst du, werde ich morgen zu dir sagen?”
„Dein Gedächtnis ist wie dieser Käse.” Frau P.s Antwort klingt sehr überzeugt, wenn auch gelangweilt. Sie räumt den Tisch ab.
Herr P. lächelt plötzlich. „Nun, dir muss man das eben öfter sagen.” Er tippt auf den Löcherkäse. „Denn dein Gedächtnis ist wie dieser Käse.”

Boomerang

Wie ein Boomerang kam Er immer wieder zurück. Je öfter sie versuchte, Ihn abzustoßen, desto kürzer wurden die Abstände bis zu seiner Rückkehr. Bis ihr der Arm so schwer wurde, dass sie Ihn kaum noch aus ihrem Gesichtsfeld verlor.

Vielleicht wäre sie Ihn ganz los geworden, wenn sie sich hätte überwinden können, Ihn zu brechen. Doch ob es an ihrem Charakter lag oder an einer versteckten Zuneigung, die sie für Ihn empfand, es gelangen ihr nur halbherzige Versuche, Ihn loszuwerden. Und mit jedem Jahr wurden sie halbherziger.

So kam es, dass sie mit Ihm alt wurde. Mit Ihm, der ihre Abweisungen lieben lernte.

Ohne Hut

Herr S. hätte nie gedacht, dass der Tag so enden würde.

Dabei war er ganz sicher mit dem richtigen Bein aufgestanden. Auch hatte er den alltäglichen Weg genommen, vom Bett ins Bad, vom Bad an den Küchentisch, vom Küchentisch ins Arbeitszimmer, vom Arbeitszimmer zur Garderobe. Dort hatte er den Hut aufgesetzt und einen letzten Blick in den Spiegel geworfen, bevor er zur Wohnungstür aufgebrochen war, sie geöffnet und wieder geschlossen hatte, um kurz darauf in seinen Wagen zu steigen und ins Büro zu fahren.

Auch auf der Arbeit war alles gewesen wie immer. Er hatte Akten durchgesehen, telefoniert, geschrieben, telefoniert, Akten durchgesehen und wieder telefoniert.

Pünktlich um 16.00 Uhr wollte er dann in den Feierabend gehen, als ihn eine Kollegin aufhielt. Frau N. nahm ihm den Hut vom Kopf und sagte ihm, es müsse sich in jedem Leben einmal etwas ändern.

Frau N. nahm ihn an die Hand und führte ihn aus. In den Park, in ein Restaurant, dann in eine Kneipe, schließlich zu sich nach Hause.

Nun lag er neben ihr und dachte, dass morgen alles anders sein würde. Er würde aus ihrem Bett aufstehen, mit welchem Bein auch immer. Dann würde er in ihr Badezimmer gehen, um an ihrem Tisch zu frühstücken.

Zwar wusste er nicht, ob es am darauffolgenden Tag noch immer so sein würde, doch er beschloss, sich auf jeden Fall von seinem Hut zu trennen.